Nicole Reuther

geboren in Berlin, 1969, lebt und arbeitet in Baden-Baden und St. Georgen. Portrait von Yoshi Toscani. Repros von Oliver Reuther und Yoshi Toscani.
Vita

Nicole Reuther ist Tuschemalerin, spezialisiert auf Sumi-e, eine traditionelle japanische Kunstform, die in der zen-buddhistischen Tradition steht. Von 2009 bis 2014 wurde sie in der Maruyama-Shijō-Schule nach den Lehren der Gründer Maruyama Ōkyo und Shijō von der Tuschemeisterin Rita Böhm in Berlin ausgebildet. Nach ihrer Ausbildung absolvierte Nicole Reuther zahlreiche Weiterbildungen in Japantusche und zeitgenössischer chinesischer Literatenmalerei. Seit 2011 stellt sie regelmäßig ihre Tuschearbeiten aus, führt Sumi-e in Anlehnung an eine frühe japanische Tradition der Aufführungspraxis vor Publikum auf und lehrt seit 2016 selbst deutschlandweit Tuschemalerei.

Ihr Ausstellungsdebüt hatte Nicole Reuther bei einer jurierten Teilnahme an einer Gruppenausstellung in der Kunsthalle Messmer in Riegel am Kaiserstuhl. Es folgten zahlreiche Ausstellungen in Deutschland, insbesondere in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Franken sowie die Teilnahme an renommierten Gruppenausstellungen, wie den Ausstellungen zum Kunstpreis der Stadt Wesseling und dem Preis des Bundes Fränkischer Künstler in Kulmbach und anderen. Diesen Sommer wird sie erstmals in Hessen eine Einzelausstellung in Marburg präsentieren, organisiert vom Fachdienst Kultur der Stadt Marburg.

Nicole Reuther wurde 2013 und 2014 von der Galerie AB Gallery Korea Seoul in der Dependance Baden-Baden vertreten. Die Galerie stellte sie unter anderem auf der internationalen Kunstmesse Artfair Innsbruck aus und ermöglichte ihr darüber hinaus den Kontakt zu Professor:innen der Korea National University of Arts, wodurch sie ihre Fertigkeiten im Umgang mit asiatischen Spezialpapieren vertiefte.

In ihrer künstlerischen Praxis und in den von ihr angebotenen Kursen legt Nicole Reuther besonderen Wert auf eine intensive Auseinandersetzung mit fremden Techniken, ohne kulturelle Vereinnahmung. Ihr Ziel ist es, durch das Erlernen und Üben fremder Gesten einen sich verbindenden Rhythmus und Takt zu finden. Diese Thematik hat sie auch in ihrer kunstphilosophischen Masterarbeit „Über das Gestische in der Kunst“ (2024) untersucht. Ihre philosophisch-künstlerische Auseinandersetzung beleuchtet die Phänomenologie des Gestischen als Resonanzraum und beschäftigt sich mit der Kraft von sich wiederholenden Bewegungsgesten – in ästhetischen wie alltäglichen Zusammenhängen.

Nicole Reuther arbeitet in ihrem Atelier in St. Georgen im Schwarzwald und lebt in Baden-Baden.

INTERVIEW mit Nicole Reuther
Über den künstlerischen Prozess

Galerie K3: Welche Materialien und Techniken bevorzugen Sie?
Nicole Reuther (NR): Ich bin ausgebildet in Sumi-e-Malerei, einer traditionellen japanischen Kunstform mit Ursprung in der Zen-buddhistischen Tradition. Die japanische Tuschemalerei bildet die Grundlage meiner Malweise, dies gilt auch für meine abstrakten Tuschearbeiten, bei denen ich westliche und fernöstliche Techniken verbinde. Sumi-e bedeutet „Malen mit schwarzer Tusche“, das heißt, dass ich vorwiegend mit Tusche auf Papier arbeite. Die Materialien, die ich verwende, sind Japantusche, asiatische handgeschöpfte Papiere wie beispielsweise Maulbeerbaumpapier (washi) und farbige japanische Aquarellfarben (gansai tambi).

K3: Wie entsteht ein typisches Kunstwerk von Ihnen?
NR: Ich male auf dem Boden, achte auf meine Atmung und Haltung. Zuerst komme ich zur Ruhe und dann tauche ich ein in das, was ich male. Ein wesentlicher Zen-Gedanke hierbei ist es, sich an nichts zu binden, nichts zu besitzen oder festzuhalten. Die Schönheit dieser Kunst liegt in der Vergänglichkeit des Moments. Aus einer meditativen Stille heraus bringe ich die Bewegungen blitzschnell auf Papier, wobei jeder Strich ein Zeugnis der Konzentration und Ausdruck der malerischen Geste im Augenblick ihrer Entstehung ist.

K3: Haben Sie bestimmte Rituale oder Gewohnheiten während des Schaffensprozesses?
NR: Sumi-e ist eine japanische Wegekunst, vergleichbar mit Bogenschießen, der Teezeremonie oder Aikido. Sumi-e erlernen erfordert das Einüben bestimmter Bewegungsabläufe und gestischer Strichführungen, ähnlich dem Trainieren von „Kata“ in den Kampfkünsten, die in ständiger Wiederholung geübt werden. Ich begreife dabei Sumi-e auch als eine Bewegungskunst. Man könnte es so formulieren: Mein Ritual ist die Wiederholung von Bewegungen. Ich wiederhole bestimmte Bewegungsabläufe, aber verändere sie dabei so, dass sich mir die „Gesten“ auf den Blatt immer wieder neu und anders zeigen.

K3: Gab es einen prägenden Moment in Ihrer künstlerischen Laufbahn?
NR: Ja, den hat es gegeben. Es ging dabei um meine Auseinandersetzung mit Sumi-Gesten und Tanz. Dieser Moment war, als ich vor ungefähr acht Jahren bei der Sommerakademie in Marburg die Klasse Darstellende Künste Tanz mit der wundervollen Tänzerin und Choreographin Maya Brosch malerisch begleiten durfte. Bei meiner Kunstform geht es ja auch maßgeblich um die Übung, sich in einen Augenblick einzufinden und ganz in diesem Moment zu sein. Ich hatte zuerst die Idee, die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer zu kalligraphieren. Ich stellte mir vor, ich würde die Bewegung beobachten und dann mit einer kleinen Verzögerung zeichnerisch darstellen. Stattdessen malte ich sie aber gleichzeitig – und das war eine enorme Erfahrung, nämlich die, dass wir synchron gleichzeitig agierten, ohne Absprachen und ohne uns zu kennen. Wie wir uns ganz offensichtlich in einen gemeinsamen Rhythmus und Takt begeben haben, das dies in dieser Form überhaupt möglich ist – das ist ein tiefgreifendes Erlebnis für mich gewesen. Seitdem weiß und fühle ich eigentlich erst, was das ist und sein kann: Ein Malen im Augenblick.

Zur Inspiration und Motivation

K3: Welche Erfahrungen haben Ihre Kunst beeinflusst?
NR: Vor allem die oben benannte Erfahrung. Ich habe danach mit weiteren Tanz-Ensembles gearbeitet. Dabei ergab sich beispielsweise die kurze, aber sehr schöne Zusammenarbeit mit den Impro-Tänzer*innen Kai Brügge und Rebecca Mary Narum, die einer ihrer Kompositionen den Namen „Tuschekörper“ gegeben hatten. Die Tänzer* innen untersuchten, wie man Geschichten durch den Körper erzählen kann, anstatt Worte zu verwenden, „um“, so Rebecca, „das Publikum nicht durch den logischen Geist, sondern durch den erkennenden Körper zu erreichen“. Die Geschichten, die meine Tuschearbeiten erzählen, gehen für mich in der Weise auch direkt durch den Körper und sind ähnlich spontan, wie es der Impro-Tanz ist.

K3: Gibt es bestimmte Künstler*innen, Themen oder Ereignisse, die Ihre Arbeit beeinflussen?
NR: Ja, da gibt es wirklich viele, angefangen mit den so genannten chinesischen Literatenmaler*innen, allen voran Bādà Shānrén (Zhu Da). Es gibt nämlich einen deutlichen Unterschied in der Ausbildung der fernöstlichen Malerei im Vergleich zur Malerei im Westen. Etwas, das in der westlichen Kunst undenkbar wäre, ist bei uns Standard: Wir kopieren die Strichführung von Vorlagen der „alten Meister“ als Übung, und zwar, um sie als Bewegungsgesten körperlich nachzuempfinden. Das heißt, es geht dabei nicht um die Kopie eines Bildes, sondern um den Aspekt der leibkörperlichen Nachempfindung, wie ein Tuschebild von einem anderen gemalt worden ist. Ich möchte da sehr gerne einmal philosophisch anschließen, weil ich mich auch in meiner philosophischen Masterarbeit mit dem Thema auseinandergesetzt habe: Ich meine, die Ausformung einer Bewegungsgeste in Tusche auf Papier zeichnet sich bei dieser Art, also der des Nachempfindens, dadurch aus, dass sie sich einerseits von der Bewegung des Anderen abhebt und andererseits durch Rückbeziehung und Resonanz mit diesem Anderen jeweils in Verbindung steht. Hier geht es demnach nicht um eine Kopie im klassischen Sinn. Denn es existiert eine Freiheit, die in der Bewegungsantwort liegt. Sie besteht darin, dass in der Wiederholung der Geste etwas Anderes und Neues entsteht –eine lebendige und leibhaftige Modifikation. Um Missverständnissen vorzubeugen, ich kopiere nicht, wenn ich künstlerisch arbeite. Die Bewegungsübungen stellen aber meinen täglichen Zugang zur Zen-Wegekunst her, und diese Übungen bilden die Grundlage meiner Malerei.

K3: Was möchten Sie mit Ihrer Kunst bei den Menschen erreichen?
NR: So denke ich nicht darüber nach. In einem direkten Sinne will ich nichts erreichen. Vielleicht gibt es in mir den Wunsch, dass wir uns mit der Schönheit des Augenblicklichen anfreunden, statt uns selbst vorauszueilen, einen Augenblick zu spüren und nicht zu überspringen. Und wenn das in Kontakt mit einer Malerei entsteht, die dies zur Grundlage hat, dann würde mich das sicher freuen. Ich meine, dass sich flüchtige, augenblickhaft gefasste Gesten beim Betrachten auch als solche zeigen.

K3: Welche Rolle spielt die Gesellschaft in Ihrer Arbeit?
NR: Ich beschäftige mich schon allein wegen der eben dargestellten Übungspraxis künstlerisch und philosophisch generell mit der Frage der Beziehung zwischen den Anderen oder dem Anderem zum Selbst. In meiner künstlerischen Praxis wie auch in meinen Kursen lege ich besonderen Wert darauf, dass eine intensive Auseinandersetzung mit fremden Techniken stattfindet, ohne jedoch eine kulturelle Vereinnahmung zu ermöglichen. Ich denke viel über das Fremde im Strich des Anderen nach, und wie wir darüber zum Fremden in uns selbst gelangen könnten. Auch das war Thema meiner philosophischen Masterarbeit. Es geht zwar nicht explizit um Gesellschaft, aber um Beziehungen und auch um soziale oder ethische Komponenten im Zusammenhang mit meiner Malerei.

Zur Bedeutung und Interpretation

K3: Wie möchten Sie, dass Ihre Kunst von den Betrachtern*innen interpretiert wird?
NR: Ich halte es mit Willi Baumeister, der gesagt hat, „der Betrachter schaut das Bild zu Ende“.

K3: Gibt es eine bestimmte Emotion oder Botschaft, die Sie vermitteln möchten?
NR: Nein, so etwas gibt es für mich nicht. Ich persönlich empfinde Vermittlungsabsichten eher bevormundend und mag sie deshalb auch nicht.

K3: Inwiefern spiegeln Ihre Werke Ihre persönliche Entwicklung oder Erfahrungen wider?
NR: Ich denke, mit den Jahren ist mein Strich „freier“ geworden. Ich versuche, jeden einzelnen Strich in hoher Konzentration und zugleich „wie absichtslos“ zu malen, ihn dabei aber nicht dem Zufall zu überlassen. So verstehe ich die japanische und chinesische Tuschemalerei. Dies überträgt sich maßgeblich auf meine westlichen Arbeiten, die dadurch immer fernöstlich inspiriert sind.

Nach der Rezeption durch das Publikum

K3: Welche Reaktionen oder Interpretationen von Betrachter*innen haben Sie am meisten überrascht oder berührt?
NR: Ich male phasenweise teilweise sehr schwarze und dunkle Bilder und verzichte ganz auf Farbe. Das bricht mit üblichen Sehgewohnheiten. Einmal hat ein Gast in einer Ausstellung zu mir gesagt, eine bestimmte Arbeit wühle ihn zu sehr auf und er müsse leider sagen, sie gefalle ihm nicht. Er kam aber zwei Tage später wieder, um die Arbeit erneut „zu besuchen“, weil sie ihn nicht mehr losgelassen hätte. Das gefällt mir.

K3: Wie fühlen Sie sich, wenn jemand Ihre Kunstwerke erwirbt und in sein Zuhause integriert?
NR: Ich mag Verbreitung sehr gerne. Ich finde es auch sehr spannend zu sehen, wie jemand eine Arbeit bei sich platziert. Manchmal ergibt es sich, beispielsweise bei einer Anlieferung, das zu sehen. Ganz egal, ob es dann meinen Geschmack trifft. Genau das mag ich wohl: Jetzt wird das Bild im neuen Umfeld wieder „neu und anders“ gesehen und geht dort in einen anderen, neuen Resonanzzusammenhang ein.

Zur Entwicklung und Zukunft

K3: Wie hat sich Ihre Kunst im Laufe der Zeit entwickelt?
NR: In Gedenken an meine verstorbene Künstlerfreundin Dorothea Knoop male ich inzwischen wieder sehr farbig. Ich habe viel von ihr gelernt und in ihrem Atelier gemalt, bevor ich Sumi-e in Japan kennenlernte. Sie mochte meinen Zugang zu Farbe sehr und war überrascht, als ich die Malerei mit schwarzer Tusche für mich entdeckte. Mit der Trauer um unsere Freundin, konnte ich nicht anders als wieder sehr farbig zu arbeiten. Das mache ich seit ein paar Jahren so, nun aber in Kombination mit schwarzer Tusche. Ich glaube übrigens nicht sonderlich an Entwicklung im Sinne von Fortschritt, ich denke eher in Zyklen.

K3: Haben Sie zukünftige Projekte oder Ziele, die Sie teilen möchten?
NR: Momentan fühle ich mich zur Fülle in Bildern hingezogen, das steht in der Tradition der chinesischen Literatenmalerei. Im Frühjahr möchte ich mich wieder mehr mit dem Thema der Leere beschäftigen, bevorzugt im großen Format.

K3: Welche Tipps geben Sie jungen Künstlerinnen und Künstlern?
NR: Freude an der eigenen Arbeit zu haben und sich immer weiter mit neuen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Vor allem aber zu ignorieren, ob das, was wir machen, anderen gefällt oder nicht gefällt. Ich war am Anfang sehr zögerlich, klassische Sumi-es auszustellen. Übliche Sujets sind hier die Blumen- und Bambusmalerei. Diese Sujets werden oftmals als kunsthandwerklich missverstanden. Auf mein Zögern hin hat ein befreundeter Berufsmaler mit jahrzehntelanger Ausstellungspraxis zu mir gesagt: „Na, wer wird uns denn den Spaß an unserer Arbeit vermiesen“. Genauso! Das ist die richtige Frage an der richtigen Stelle. Die gebe ich gerne weiter.

K3: Was halten Sie von der Digitalisierung des Kunstmarktes und wie beeinflusst Sie das in Ihrer Arbeit?
NR: Oh, ich liebe Papier! Und ich schätze hochwertige Holzarten für Rahmungen sehr, wie Ahorn oder amerikanisches Nussbaumholz. In dieser Hinsicht bin ich eher traditionell. Abgesehen davon, dass die Digitalisierung eine bessere Vernetzung untereinander ermöglicht, hat sie wenig Einfluss auf meine Arbeitsweise.

K3: Danke Nicole Reuther für das Interview und die tiefen Einblicke.